Positive Verhaltensunterstützung zur Vermeidung freiheitbeschränkender Maßnahmen

Einleitung

Freiheitsbeschränkende Maßnahmen sind ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und unterliegen der amtsrichterlichen Genehmigung und Kontrolle. Freiheitbeschränkende Maßnahmen finden Anwendung, wenn alle erdenklichen, pädagogischen Maßnahmen nicht mehr greifen und eine massive Fremd -und Eigengefährdung des Betroffenen vorliegt. Auf dem Autismushof werden im Rahmen der Vorsorge und Präventivmaßnahmen positive verhaltensunterstützende Maßnahmen angewandt, um einer drohenden Eskalation im Bereich „herausforderndes Verhalten“ und „freiheitsbeschränkender Maßnahmen“ erfolgreich entgegenzuwirken. Zugleich handelt es sich hierbei um einen anerkannten wissenschaftlichen Ansatz auf abweichende Verhaltensmuster angemessen zu reagieren. In dem nachfolgenden Handlungsmodel werden die lerntheoretischen Bezugspunkte der Verhaltensanalyse näher beschrieben, um eine positive Verhaltensveränderung der Nutzer zu bewirken. Negative Verhaltensmuster sind erlernt und haben sich zumeist gefestigt. Ebenso können positive Verhaltensmuster erlernt werden und als ein alternatives Handlungsmodell, die Grundlage für eine Verhaltensveränderung der Nutzer bilden. Die u. g. Handlungsebenen sind eine komprimierte Zusammenfassung der lerntheoretischen positiven Verhaltensunterstützung nach Prof. Dr. Georg Theunissen -Autismus-.

Drei Handlungsebenen:

  1. institutionsbezogene Ebene
  • schul-, wohn- oder werkstattspezifisches Konzept
  • wie kann eine Institution dazu beitragen, dass Verhaltensauffälligkeiten nicht auftreten oder vermieden werden können
  • Prävention
  1. gruppenbezogene Ebene
  • Kindergruppe, Schulklasse, Wohn- oder Arbeitsgruppe
  • Prävention
  1. personenbezogene Ebene
  • Einzelhilfe-Konzept
  • wenn präventive Maßnahmen auf institutions- oder gruppenbezogenen Ebene nicht ausreichen oder in einem anderen Kontext (z.B. im Supermarkt) auftreten.

Fünf theoretische Bezugspunkte:

  1. lerntheoretische Grundlagen und „Angewandte Verhaltensanalyse“

Die lerntheoretischen Grundlagen stützen sich auf das Konditionieren (lernen aufgrund von Belohnung). In diesem Zusammenhang wird einem erwünschten Verhalten eine positive Konsequenz zugeschrieben, sodass das erwünschte Verhalten verstärkt und mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederholt wird. Positive Verstärker sind u.a. soziale Verstärker (z.B. Lob) und/oder materielle Verstärker.

  • Grundprinzipien bekannter Lerntheorien und der „Angewandten Verhaltensanalyse“ (systematische Erfassung von Verhalten und Verhaltensbedingungen)
  • Auslöser à Verhalten à Folge
  • 3 Möglichkeiten zur Beeinflussung der Auftrittswahrscheinlichkeit eines Verhaltens durch die Veränderung von Konsequenzen:

1) positive Verstärkung (Wahrscheinlichkeit, dass dieses Verhalten wieder auftritt, erhöht sich)
2) negative Verstärkung (Entfernung eines unangenehmen Reizes)
3) Bestrafung (Typ A: auf Verhalten folgt ein unangenehmer Reiz/Typ B: Entfernen eines angenehmen Reizes)

  1. Stärken-Perspektive und Menschenrechte

Um eine bessere Lebensqualität zu ermöglichen und das Wohlbefinden der Betroffenen zu steigern, darf man einen Menschen mit „herausfordernden Verhalten“ nicht nur auf sein Problem reduzieren. Stattdessen sollen die individuellen Ressourcen erkannt und mobilisiert und zugleich verstärkt werden. Hierbei dienen u.a. die Menschenrechte ebenfalls als Grundlage für ein angemessenes Unterstützungsprogramm im Bereich der „positiven Verhaltensunterstützung“, da sie jeden Menschen gleichermaßen zustehen und nicht verhandelbar sind.

  • alle Menschen haben eine Vielzahl von Talenten, Fähigkeiten, Kapazitäten, Fertigkeiten und Sehnsüchte
  • Achtung der individuellen Würde, die Unverletzlichkeit des menschlichen Körpers, freie Meinungsäußerungen und Urteilsbildungen sowie individuelle Gleichbehandlung
  1. Neurobiologische Erkenntnisse
  • innerpsychische Lern- und Entwicklungsprozesse
  1. Systemökologische Erkenntnisse
  • kontextuelle Bedingungen
  • gegenseitige Beeinflussung im Person-Umwelt-Verhältnis
  1. Inklusion
  • gesellschaftliche Nicht-Aussonderung und unmittelbare Zugehörigkeit

Sechs Grundannahmen:

  1. Herausfordernde Verhaltensweisen sind erlernt
  2. Herausfordernde Verhaltensweisen sind kontextbezogen
  3. Herausfordernde Verhaltensweisen dienen einem persönlichen Zweck
  4. Effektive Programme basieren auf einer funktionalen Betrachtung von herausfordernden Verhaltensweisen
  5. Effektive Programme müssen „ganzheitlich“ angelegt sein
  6. Effektive Programme verlangen eine gute Zusammenarbeit

test

Fünf Bausteine zur Entwicklung eines Unterstützungsprogramms:

  1. Veränderung von Kontextfaktoren

Es kann für einen Betroffenen mit „herausfordernden Verhalten“ mitunter eine Erleichterung bedeuten, wenn er im Tagesgeschehen lediglich vom Tischdienst befreit wird, weil sich diese Aufgabe derzeit als noch zu große Herausforderung darstellt (Deeskalation). Diese Strategie ist in den meisten Fällen sehr leicht zu realisieren und führt in der Regel zu schnellen und positiven Ergebnissen (vgl. Heinrich 2006, 183 in Kaminski und Frese).

  • gestörtes Person-Umwelt-Verhältnis
  • präventive Bedeutung
  • leicht realisierbar, rasche positive Effekte, Erleichterung (günstig für neue Lernprozesse)
  • Strategien: Vermeiden, Modifizieren, Einstreuen, Ergänzen, Neutralisieren, Strukturieren
  1. Erweiterung des Verhaltens- und Handlungsrepertoires
  • angstfrei neues Verhalten erlernen und erproben (in konfliktfreien Zeiten)
  • positive Erfahrungen und eine günstige Ausgangsbasis für neue Lernprozesse
  • mehr Möglichkeiten, sich positiv zu verhalten
  • Strategien: Aufbau eines funktional äquivalenten Verhaltens, Aufbau neuer allgemeiner Fähigkeiten, Aufbau alternativer Bewältigungsformen
  1. Veränderung von Konsequenzen
  • direktes Verhaltensmanagement (reaktiv, positiv) à die Erfahrung machen, dass sich positive, alternative oder neue Verhaltensweisen lohnen
  • Strategien: Verstärken, Anstiften zur Selbstbekräftigung, Anstiften zum Selbstmanagement, Unterstütztes Lernen, Ignorieren, Umlenken, Grenzen setzen, Verbales Feedback, Notfallintervention
  1. Persönlichkeits- und lebensstilunterstützende Maßnahmen

Durch die Schaffung bzw. durch die Assistenz bei der individuellen Anwendung von positiv unterstützenden Maßnahmen im Bereich Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) werden Alltagkompetenzen gefördert und gestärkt. Zugleich sollen so neue Verhaltensweisen aufgebaut und gleichzeitig entwicklungseinschränkende und/oder abweichende Verhaltensweisen schrittweise minimiert und im Idealfall komplett abgebaut werden. Die Schaffung solcher zuverlässigen, verhaltensunterstützenden Maßnahmen und Strukturen, gibt den Menschen mit ASS die Möglichkeit der Vorhersehbarkeit und Orientierung. Dieser ressourcenorientierte Ansatz unterstützt darüber hinaus die Selbstständigkeit mit unterschiedlichen Lebensmodellen und berücksichtigt zugleich das individuelle Entwicklungsniveau des Einzelnen. In diesem Zusammenhang wird der Entwicklungsprozess des Einzelnen nachhaltig positiv verstärkt und sichergestellt.

  • Ziele, Formen und Möglichkeiten einer individuellen Lebensgestaltung, Autonomie, Wohlbefinden, zwischenmenschliche Beziehungen und Lebenszufriedenheit, Möglichkeiten einer sinnerfüllten, persönlich bedeutsamen Lebensverwirklichung
  • Strategien: Verbesserung von Lebens-, Lern- und Arbeitsbedingungen, Direkte Lebensstilunterstützung, Förderung und Unterstützung von zwischenmenschlichen Beziehungen, Förderung und Unterstützung von persönlichem Empowerment, Ressourcenaktivierung, Förderung und Unterstützung informeller Unterstützungsnetzwerke, Förderung und Unterstützung von Inklusion, Arbeit mit Bezugs- und Umfeldpersonen
  1. Krisenmanagement
  • begrenzt auf einen bestimmten Zeitraum (Anbahnung, Höhepunkt, Abflachen)
  • i.d.R. schwere psychische Belastung
  • Strategien: Präventive Hilfen, Krisenplan, Akutintervention, Kurzfristige Nachbegleitung, Nachsorge

Umsetzung, Durchführung und Evaluation:

  1. Verlaufskontrolle
  • tägliche Notizen (Beobachtungen, Besonderheiten, konfliktfreie Zeiten, etc.)
  1. Programmevaluation
  • Bewertung aus Sicht der betroffenen Person und aus Sicht des Umfeldes
  • Gespräche, Auswertung von Aufzeichnungen/Beobachtungsbögen/offiziellen Berichten, direkte Verhaltensbeobachtungen, Anhörung der betroffenen Person
  1. evtl. Modifikation des Programms oder Programmerweiterung
  • falls keinen nennenswerten Verhaltensänderungen oder Verbesserungen beobachtet werden können